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Europe Calling „Migration auf Nordisch – Was macht eine restriktive Einwanderungspolitik mit der Gesellschaft?“
4.November 2024 19:00 - 21:00

Aufzeichnung hier / Zusammenfassung unten
Dänemarks Migrationspolitik wird in der deutschen Diskussion über Flucht und Zuwanderung immer wieder als Vorbild genannt. Sie steht nicht alleine, sondern ist stellvertretend für einen Trend in den nordischen Ländern, gekennzeichnet von Repression und Einschränkungen. Eine Begründung: Eine solche Politik hielte die rechten Parteien klein und die Gesellschaften demokratisch.
Doch was ist von diesen Argumenten zu halten? Ist eine repressive Migrationspolitik demokratischer Parteien wirklich ein Gegenmittel gegen den Rechtsruck? Und was sind ihre Auswirkungen auf die Gesellschaften und den Umgang miteinander?
Darüber wollen wir in unserem nächsten Europe Calling in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung sprechen und Eure Fragen diskutieren.
Unsere Gäste sind:
- Judith Kohlenberger – Kulturwissenschaftlerin & Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien und Autorin u.a. von “Gegen die neue Härte”
- Dr. Jakob Schwörer – Politikwissenschaftler im Stockholmer Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung und Experte für Populismus und Rechtsextremismus
- Nursemin Sönmez – Geschäftsführerin der neuen deutschen organisation, ein postmigrantisches Netzwerk von Vereinen, Organisationen und Projekten.
- Hakan Demir MdB – Mitglied im Vorstand der AG Migration und Integration der SPD Bundestagsfraktion
- Moderation: Annette Schlicht (Friedrich-Ebert-Stiftung) & Dr. Maximilian Fries (Europe Calling e.V.)
Termin: Montag, 4. November 2024, 19:00 – 21:00 Uhr
Das Webinar wird live in Deutsch und Englisch übersetzt.
Seid selbst dabei und ladet andere ein.
Mit europäischen Grüßen,
Maximilian Fries von Europe Calling e.V.
Annette Schlicht von der Friedrich-Ebert-Stiftung
ZUSAMMENFASSUNG
Im ersten Vortrag (Folien hier) hat uns Jakob Schwörer, vom Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Stockholm, die aktuelle Migrations- und Integrationspolitik in Dänemark im Detail vorgestellt. Seit Jahren verabschieden hier Regierungen immer härtere Gesetze. Im Zentrum steht der Schutzstatus, der jederzeit und ohne Vorwarnung entzogen werden kann. Das nehme Geflüchteten jede Perspektive und führe dazu, dass sie kaum eine Chance haben sich zu integrieren, auch nicht durch Arbeit oder Ausbildung. Besonders für Frauen und Familien ein schlimmer Zustand. Zusätzlich gibt es seit einigen Jahren eine so genannte “Ghetto-Gesetzgebung”, wodurch in Gegenden mit mehr als 50% Menschen mit Migrationshintergrund, diese Menschen zwangsweise umgesiedelt werden können, selbst dann, wenn sie dänische Staatsbürger:innen sind. All diese Maßnahmen haben in Dänemark vor allem dazu geführt, dass Eingewanderte diskriminiert und ausgegrenzt werden. Die proklamierten Ziele der Regelungen aber, wie ein Rückgang der Abschiebungen und der Anzahl der Asylanträge, sind nicht auf die ursächlich auf die Maßnahmen zurückzuführen. Außerdem haben sie weder dazu geführt, dass rechtsextreme Parteien weniger Zulauf erhalten, noch das Land sicherer gemacht. Vielmehr habe Dänemark große Probleme, Fachkräfte anzuwerben.
Migrationsexperte Judith Kohlenberger aus Wien hat dann den Bogen weiter gespannt und gezeigt (Folien hier), was für Konsequenzen diese “neue Härte” (auch der Titel ihres Buches) für die Geflüchteten, die Politik vor allem in Europa und die Gesellschaften hat. Sie stellt eine Verrohung der Debatte fest, die einen Wettlauf: “Wer baut noch schneller, noch mehr Rechte ab” befeuert. Die Folgen gehen weit über das Thema Migration hinaus. Sie verschieben das Sag- und Machbare hin zum Autoritären, auch im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, der Autorität des demokratischen Staates und der Bürgerrechte. In diesem Unterbietungswettbewerb nehme auch die europäische Solidarität massiv Schaden. Und letztlich lenkten Scheinlösungen bei der Migration (wie Grenzkontrollen und Bezahlkarten) nur von den eigentlichen, ungelösten Problemen ab, bzw. würden im Sinne einer “Sündenbockpolitik” aktiv vorgeschoben, wenn es um die Lösung sozialer Probleme, wie der Erhöhung der Lebenshaltungskosten, Mieten, aber auch des gezielten Einsatzes gegen Radikalisierung geht. Sie betonte, dass es wichtig sei, den Solidaritätsgedanken in den Gesellschaften und in Europa zu stärken, der auch im Europäischen Asylsystem (GEAS) angelegt sei.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete für Berlin-Neukölln Hakan Demir und Nursemin Sönmez, Geschäftsführerin der neuen deutschen organisationen bestärkten diese Punkte aus ihrer Sicht.
Hakan Demir berichtete, wie in seinem Wahlkreis ihn Menschen ansprechen, die Angst haben, abgeschoben zu werden, obwohl sie schon längst Teil der Gesellschaft sind. Viele fühlten eine große Unsicherheit und Schutzlosigkeit. Er betonte, dass die Ampel in den letzten drei Jahren viel Positives erreicht habe mit Staatsangehörigkeitsrecht, Chancen-Aufenthaltsrecht, Fachkräfteeinwanderungsgesetz, aber dass die Einseitigkeit und Verrohung der Debatte ihn besorgt. Er appellierte auch an die Zivilgesellschaft lauter zu sein, denn z.B. beim Sicherheitspaket fehlte Druck von außen.
Nursemin Sönmez betonte, wie wichtig es sei zu verstehen, dass Deutschland eine Migrationsgesellschaft sei, die von ihrer Vielfalt menschlich und wirtschaftlich profitiere. Sie warnte vor der “Versicherheitlichung” der Migrationsdebatte, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt äußerst gefährlich sei. Sie forderte eine soziale Politik, die die wirklichen Probleme angeht und eine Stärkung der Zivilgesellschaft, um sich der Verrohung entgegenstellen zu können.
Wie viele von Euch uns im Webinar und im Nachhinein geschrieben habt, haben wir in diesen vollen zwei Stunden gemeinsam viel gelernt und verstanden. Auch wenn absehbar nicht zu erwarten ist, dass sich in den nächsten Wochen Wesentliches an dem Unterbietungswettbewerb beim Asylrecht und dem dazugehörigen toxischen Diskurs ändern wird, auf Dauer werden die demographischen Probleme und ihre ökonomischen Auswirkungen in allen europäischen Ländern so groß werden, dass sich sowohl in der Praxis (mehr und sichere legale Wege) als auch in der Kommunikation etwas ändern muss. Dafür gibt es jetzt schon Anzeichen, z.B. in Dänemark. Da überbietet man sich zwar im restriktiven Diskurs nach außen, wirbt aber auf der anderen Seite afrikanische Arbeitskräfte an. Auch die Differenzierung in die „unerwünschten Asylbewerber:innen“ im Gegensatz zu den „gewünschten Arbeitsmigrant_innen“ wird sich vor diesem Hintergrund auf Dauer nicht aufrechterhalten lassen.
So gehen wir entschlossen aus diesem Webinar und planen schon das nächste. Teilt diese Mail und die Folien gerne mit anderen. So tragen wir unseren Teil bei, um die Diskussion zu drehen.
Mit freundlichen Grüßen,
Annette Schlicht von der Friedrich-Ebert-Stiftung
Maximilian Fries von Europe Calling e.V.